Erst entgleist, dann entfesselt: Bielefelds wilder K.o. im Pokalfinale

Es lief die 12. Spielminute. Schicksalhaft, eine Schlüsselszene. Diese Momente, die sich ein Underdog wie die Noch-Drittliga-Fußballer der Arminia im DFB-Pokalfinale von Berlin gegen den klar favorisierten Bundesligisten VfB Stuttgart erhofft.
Als Bielefeld schnell durch die Mitte kombinierte und Joel Grodowski einen flachen Pass in die Mitte zu Noah Sarenren Bazee spielte, stockte den VfB-Fans in der Ostkurve der Atem. Der Anhang des Zweitliga-Aufsteigers auf der anderen Seite hatte derweil den Torschrei auf den Lippen. Doch knapp fünf Meter vor dem Tor versagten Sarenren Bazee die Nerven - Latte.
So kam es, wie es kommen muss: Der VfB übernahm das Kommando, erzielte binnen 13 Minuten drei Tore und dominierte das Endspiel vor der Halbzeit.
Bezeichnend: die Riesenchance, die Sarenren Bazee liegen gelassen hatte, sollte die einzige Möglichkeit nach klassischem Muster bleiben - wenn der Außenseiter ausnutzt, weil der Favorit unkonzentriert zu Werke geht.
Es schien, als sei die Aufgabe für die sportlich über die gesamte Pokalsaison so stark aufspielenden Ostwestfalen in Berlin - statt zuvor stets auf der heimischen Alm - schlicht eine Nummer zu groß. Vor dem Tor von Neu-Nationalspieler Nick Woltemade (15. Minute) nahm dessen DFB-Kollege Angelo Stiller einen Ball direkt, schickte den hochgewachsenen Stürmer an einem Bielefelder vorbei ins Laufduell. Woltemade blieb stabil und ließ Arminia-Torwart Jonas Kersken keine Chance.
Noch eklatanter der Fehler vor dem 0:2, als sich Sam Schreck und Marius Wörl nach eigener Ecke uneinig waren. Deniz Undav und Enzo Millot rannten allein auf Kersken zu, Undav bediente Millot, Tor (22.). Das 0:3 sechs Minuten später entstand wieder nach Bielefelder Unachtsamkeit, da bediente Stiller den emsigen Undav, der eiskalt abschloss.
Bielefeld-Trainer Mitch Kniat
So stellten sich die Verhältnisse nach einer halben Stunde klar wie erwartet dar. „Zehn, 15 Minuten waren wir nicht da und das hat der Gegner gnadenlos ausgenutzt“, fasste es Mitch Kniat, Trainer der Arminia, treffend zusammen.
Als auch der vierte Treffer, den erneut Millot besorgte (66.), wieder aus einem Fehlpass der Bielefelder hervorging, feierten die Stuttgarter schon; alle Zweifel schienen beseitigt. Die gesamte Schwaben-Elf versammelte sich an der Kurve, vor der gerade das Tor gefallen war. Partystimmung auf den Rängen, Partystimmung auf dem Rasen. VfB-Coach Sebastian Hoeneß lief bereits auf selbigen, um Spieler in den Arm zu nehmen.
Dann aber entlud sich spät und unerwartet doch noch der Kampfgeist des angeknockten Außenseiters. Der Drittligameister zeigte kurz sein Gesicht als Pokalschreck, der die Erstligisten Union Berlin, Freiburg, Bremen und zuletzt im Halbfinale Ex-Doublesieger Bayer Leverkusen bezwungen hatte.
Das 1:4 des zuvor eingewechselten Julian Kania in der 82. Minute war ein Wachmacher - und zugleich geschichtsträchtig: Kania traf als überhaupt erster Drittligaspieler in einem DFB-Pokalfinale.

Schreibt mit der Arminia Geschichte: Julian Kania ist der erste Drittligaspieler, der im Pokalfinale trifft.
Quelle: IMAGO/Schüler
Als Josha Vagnoman nur drei Zeigerumdrehungen später seinen eigenen Torwart Alexander Nübel per Kopf überwand, keimte echte Hoffnung auf. Die Rollen waren wieder verteilt, wie es sich gehört - der Außenseiter profitierte von gegnerischen Nachlässigkeiten.
In der Nachspielzeit, im Strafraum vor der vom eigenen Team entfesselten Fangemeinde, verpasste Lukas Kunze den Anschluss, Nübel rettete in höchster Stuttgarter Not. Da waren auch Hoeneß „ganz komische Gedanken durch den Kopf gegangen“, gab er später bei der Pressekonferenz zu.
Der VfB-Trainer wurde dann vom Team mitten im Satz per obligatorischer Bierdusche abgeholt. Damit waren alle Fragen beantwortet. Der Cupsieg, der insgesamt vierte für den VfB und der erste seit 1997, sowie die gelungene Europa-League-Qualifikation mussten gefeiert werden.
Und sein Gegenüber Kniat? Der lobte sein Team vor allem für die Schlussphase. Die 12. Minute, die sei bei ihm und der Mannschaft „kein Thema mehr“ gewesen. Im Gedächtnis bleibt ihm die wilde Schlussoffensive, mit der die sensationelle Bielefelder Pokalsaison endet.
rnd